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Datum:26.01.16
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Flüchtlinge: "Die Debatte über sexualisierte Gewalt muss offen und kritisch geführt werden" - Gespräch bei kargah

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Details:LinkTipp: Spezial: Flucht, Asyl, Einwanderung
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„Jeder Mensch muss diese Angriffe auf's Schärfste verurteilen“

Was in der Silvesternacht in Köln und anderswo geschah, hat der Willkommenskultur geschadet. Medien und soziale Netzwerke diskutieren engagiert über Flüchtlinge, die Politik sucht verzweifelt nach Lösungen. Wolfgang Becker und Klaus Öllerer sprachen hierüber mit Asghar Eslami und Peyman Javaher-Haghighi von kargah e.V..


Wolfgang: Der Verein kargah gilt als Integrationsmeister. Wie beurteilt Ihr die aktuelle Debatte über Flüchtlinge?

Asghar: Die Ereignisse in Köln sind für keinen Mensch akzeptabel, unabhängig von Hautfarbe, Herkunft oder Religion. Ich finde aber die Form der Debatte sehr gefährlich. Die demokratischen Anliegen der Frauen gegen sexualisierte Gewalt werden für die Flüchtlingsaufnahmepolitik und gegen Flüchtlinge missbraucht. Es ist wichtig, die Taten so schnell wie möglich aufzuklären, insbesondere die sexuellen Übergriffe gegen Frauen und gleichzeitig gegen die Kriminellen Strafanzeige zu stellen, bzw. gesetzlich gegen die Straftäter vorzugehen. Aber auch die Frauen, die angegriffen wurden, müssen so schnell wie möglich unterstützt werden. Jeder Mensch muss diese Angriffe aufs Schärfste verurteilen. Die Straftaten, die in Köln passiert sind, sollten nicht so dargestellt werden als wäre sexuelle Gewalt nur ein Flüchtlingsphänomen.

Klaus: Man darf also nicht pauschalisieren...

Asghar: Die polizeiliche Kriminalstatistik weist jährlich mehr als 7.300 angezeigte Vergewaltigungen und sexuelle Nötigungen in Deutschland aus. Diese Straftaten sind ein Phänomen der Machogesellschaft. Zu den Straftätern gehören sowohl deutsche Männer als auch Menschen mit Migrations- und Flüchtlingshintergrund. Deshalb müssen die Täter unabhängig von ihrer Ethnie strafrechtlich verfolgt werden.

Peyman: Die Gefährlichkeit der aktuellen Debatte liegt darin, dass zwei Ebenen miteinander vermischt werden. Einmal sexuelle Belästigung, die in aller Form, von wem auch immer zu verurteilen ist. Die andere Ebene ist die Flüchtlingspolitik. Hier wird Stimmungsmache betrieben, es wird alles verallgemeinert, pauschalisiert. Wenn ein SPD-Politiker wie unser Ministerpräsident Weil sich dafür einsetzt, dass die Anzahl der Flüchtlinge in Europa reduziert wird und dies u.a. als Folge der Überfälle in Köln und dann Frau Merkel, eigentlich eine moderate CDU-Politikerin als fortschrittlich erscheint, dann ist das eine Stimmungsmache für mich. Ich denke – von welchem Politiker auch immer – sollte man das unterlassen und sich einfach konzentrieren auf die Fälle, die stattgefunden haben, die sexuellen Übergriffe, die man zu beurteilen hat, aber daraus nicht eine allgemeine Flüchtlingspolitik versuchen zu formulieren. Das halte ich für sehr gefährlich.

Wolfgang: Hat sich in Eurer Sicht und konkret in der Arbeit etwas geändert in den letzten paar Wochen?

Peyman: In den letzten drei Wochen nicht direkt, aber dadurch, dass die allgemeine politische Wetterlage sich verschlechtert, merken wir, das z.B. Sündenbockmechanismen auftauchen, merken wir, dass Leute, die sich für Flüchtlinge engagieren, leiser werden, in die Defensive geraten. D.h., es ist nicht nur eine humane Verpflichtung Europas Flüchtlingen zu helfen, sondern es ist auch eine Bringschuld dadurch, dass Europa sich bei der Entstehung der weltweiten Fluchtbewegung verantwortlich macht oder gemacht hat: durch Unterstützung von Diktaturen, durch Rüstungspolitik, durch militärische Interventionen, verfehlte Entwicklungspolitik usw.
Die jetzige Unterstützung von Flüchtlingen, die Schritt für Schritt zurückgenommen wird, ist also nicht nur ein humaner Akt, sondern politische Verpflichtung. Und dadurch, dass das geändert wird, fürchte ich, dass das langfristig auch Einflüsse auf unsere Arbeit haben wird.

Asghar: Wir in kargah setzen uns seit Jahren für Gleichberechtigung der Geschlechter ein und für eine offene Wir-Gesellschaft aber auch gegen Rassismus und Gewalt, gegen Frauen sowie auch andere Formen von Diskriminierung.

Peyman: Was wir planen, ist demnächst in den Deutschkursen für Flüchtlinge, aber auch für Nichtflüchtlinge, gezielt über Rechte der Frauen zu sprechen als ein Teil des Unterrichtes. Dass wir z.B. auch in der Muttersprache, verschiedenen Sprachen, einen Abend haben, um darüber aufzuklären.

Asghar: Dieses muss auch gesellschaftlich debattiert werden. Die sexualisierte Gewalt darf nicht nur dann thematisiert werden, wenn die Täter die „Anderen“ sind. Dadurch werden pauschal Millionen in Deutschland lebende Menschen und schutzsuchende Flüchtlinge in Gefahr gebracht.

Klaus: Wie bewertet Ihr, dass in Köln oder auch in Hamburg und anderen Städten diese Übergriffe in so großem Umfang geschahen?

Asghar: Das ist in der Tat neu und es wird auch unterschiedlich darüber berichtet. Es gibt hier vermutlich einige Phänomene nebeneinander. Zum einen sexualisierte Gewalt gegen Frauen, zum anderen die rein kriminellen Täter mit Handydiebstählen usw. Das sind wohl verschiedene Straftaten. Wir hoffen sehr, dass das von der Polizei zügig aufgeklärt wird. In unseren Augen sind das kriminelle Taten, egal ob sie in Köln, Hamburg, Berlin oder Hannover oder bei FAUST passieren. Egal ob Flüchtlinge oder Migranten oder auch andere daran beteiligt sind.

Klaus: Was sagt ihr zur Forderung von Grenzkontrollen und Obergrenzen?

Peyman: Durch die Übergriffe von Köln und anderswo wird Politik gemacht. Es heißt, dass jetzt die Grenzen dicht gemacht werden müssen und die Anzahl der Flüchtlinge begrenzt werden soll. Für mich sieht das nach einer willkommenen Angelegenheit aus. Dabei sollte es doch erst einmal um die Beseitigung der Fluchtursachen gehen. Und um die Rolle der westlichen Welt bei der Entstehung der Krisen. Solange die Fluchtbewegungen nicht aufhören, muss das reiche Europa die Migranten auch aufnehmen. Wir sind zum Glück ein reicher Kontinent mit vielen finanziellen Möglichkeiten. So ein kleines Land wie Libanon hat bei etwa 4,5 Millionen Einwohnern mehr als eine Million Flüchtlinge aufgenommen. Zum Vergleich: 2015 kamen etwa 4.500 Flüchtlinge nach Hannover. Das sind wirklich sehr wenig, aber damit wird Politik gemacht. Von den ca. 60 Millionen, die weltweit auf der Flucht sind, kommen laut UNO etwa 11% nach Europa. Solange die Fluchtursachen nicht beseitigt sind, muss Europa die Menschen auch aufnehmen.

Asghar: Keine politische Partei in Deutschland gibt eine Antwort. Flüchtlinge sind weltweit unterwegs. Ob wegen Armut oder Bürgerkriegen. Flüchtlinge versuchen irgendwo auf der Welt Sicherheit zu finden. Die Frage ist doch, inwieweit schaffen wir das in Deutschland, auch andere europäische Staaten mit einzubeziehen. Ob wir wollen oder nicht, die Flüchtlinge kommen.

Klaus: Könnte es eine Alternative für uns sein, in Ländern wie Libanon, Jordanien und Türkei mehr für Flüchtlinge zu investieren?

Peyman: Die Gefahr ist groß, dass die korrupten Politiker z.B. in der Türkei diese Milliarden für sich nehmen und nicht für die Flüchtlinge in den Lagern verwenden. Wenn europäische Staaten es ernst meinen mit der Unterstützung dieser Länder, dann müssen sie sich dafür einsetzen, dass die Gelder auch bei den Flüchtlingen ankommen und dass bestimmte soziale Standards gewahrt werden.

Asghar: In all diesen Ländern gibt es eine korrupte Schicht von Politikern und undemokratische Regierungen. Deshalb muss bei der Unterstützung von Flüchtlingen neu überlegt werden und demokratische Instrumente sowie Kontrollmechanismen und soziale Standards mit eingebaut werden.

Wolfgang: Stichwort Kriminalität von Flüchtlingen, auch hier in Linden am Ihmeufer, bei FAUST oder in der Glocksee. Was wisst ihr darüber?

Asghar: Soweit ich weiß, sind das nicht nur Flüchtlinge. Es gibt Kriminelle, die zum Teil auch in Gruppen agieren. Wenn gesellschaftliche Verantwortung da ist, gerade in so einem Stadtteil wie Linden, dann können wir auch diese Kriminellen, die ja nur einen ganz kleinen Teil darstellen, bekämpfen. Hierbei muss die Arbeit der Beratungsstellen aber auch Straßensozialarbeit verstärkt und mit Angeboten ausgebaut werden.
Wenn Straftaten passieren, muss man sich schnell an die Polizei wenden und sehen, was dann gemacht werden kann. Wir müssen vor allem solidarisch mit Frauen und miteinander umgehen, dann können wir mit diesen Kriminellen auch fertig werden.

Wolfgang: Uns wird „unreflektiertes Rassistengelaber“ vorgeworfen, wenn wir über Kriminalität von Flüchtlingen oder auch die Verunsicherung von Frauen berichten. Was meint ihr dazu?

Asghar: Ihr berichtet wie ihr wollt. Wir haben in Linden eine Vielfalt von Kulturen und auch von Sichtweisen. Wenn ihr über diese Vielfalt und die verschiedenen Meinungen hier im Stadtteil berichtet, dann kann das keine rassistische Hetze oder Kampagne sein.
Die Debatte über sexualisierte Gewalt muss offen und kritisch geführt werden. Sexismus und sexualisierte Gewalt darf nicht pauschalisiert und den „Anderen“ zugeschrieben werden, dadurch geraten Flüchtlinge und Migranten in unzulässiger Weise unter Generalverdacht.


Siehe auch:
So, 15.09.2013, in Linden-Nord bei Faust
kargah e.V. - Die Integrationsmeister

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Details2:Asghar Eslami (links) und Peyman Javaher-Haghighi (rechts) von kargah am 20.01.2016

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Details3:Das große Team von kargah ist den Aufgaben entsprechend vielfältig zusammengesetzt
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